Ivan Illich, der scharfsinnige Gesellschaftskritiker, starb Anfang Dezember.
Die Biographie des Kosmopoliten Illich liest sich wie ein Spiegel seines intellektuellen Werdegangs: geboren 1926 in Wien als Sohn eines kroatischen Katholiken und einer sephardischen Mutter aus Deutschland. 1941 auf Grund der Rassengesetze ausgewiesen, Studium in Florenz und später an der Gregorianischen Universität im Vatikan. Priester in New York, wo er mit vielen puertorikanischen MigrantInnen und dadurch auch mit dem Thema Unterentwicklung / Ausbeutung in Kontakt kommt.
Illich, der acht Sprachen beherrschte und neben der Theologie auch das Studium der Philosophie (Vatikan), der Geschichte (Salzburg) und der Kristallographie (Florenz) abgeschlossen hatte, entfremdete sich immer mehr der katholischen Kirche, wurde vor die Glaubenskongregation im Vatikan bestellt (die 85 streng geheimen Fragen, die man ihm dort stellte, wurden später von Illich veröffentlicht!) und legte schließlich seine priesterlichen Funktionen nieder. Entscheidend für sein Weltbild war auch eine lange Lateinamerikareise, die er teilweise zu Fuß zurücklegte. 1960 gründete er in Cuernavaca in Mexiko das CIDOC, ein interkulturelles Dokumentationszentrum.
In den 70er Jahren waren Illichs Schriften ideelle Säulen der Dritte Welt- und Alternativ-Bewegung. In „Entschulung der Gesellschaft“ entwarf er eine radikale Gesellschafts- und Bildungskritik, in „Medical Nemesis: Die Enteignung der Gesundheit“ stand die Medizin im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. In „Selbstbegrenzung“ formulierte Illich eine politische Kritik der Technik, und in „Fortschrittsmythen: Schöpferische Arbeitslosigkeit“ stellte der Autor die Irrwege der zeitgenössischen Konsumgesellschaft an den Pranger.
Die scharfsinnigen, oft ironisch formulierten Analysen Illichs („Die Ärzteschaft ist zu einer ernsten Bedrohung der Gesundheit geworden“ war damals ein geflügeltes Wort) besitzen auch heute noch Gültigkeit, auch wenn es in den 80er Jahren still wurde um den großen Gesellschaftskritiker. Der Zeitgeist – der weltweite Siegeszug des Neoliberalismus – überrollte Illichs Kritik am Wirtschafts-, Gesundheits- und Bildungssystem. Erst in den letzten Jahren, mit dem Erstarken der Globalisierungskritik, wird der Humanist mit der spitzen Feder wieder geschätzt. Im vergangenen März organisierte die UNESCO ein Kolloquium über Entwicklungsfragen. Illich wurde eingeladen, genauso wie der französische Globalisierungskritiker José Bové. Und kürzlich hat das „British Medical Journal“ die Kritik Illichs am „Gesundheits“-Wesen – mit 30-jähriger Verspätung! – gewürdigt.
Auch mit seinem eigenen Leben bestätigte Illich die Richtigkeit seiner Kritik. Schon 1983 wurde ihm die Diagnose Parotis-Krebs gestellt und ihm von einem angesehenen Experten empfohlen: sofortige Operation, nur dann gibt es eine Überlebenschance von fünf Jahren. Illich ließ sich nicht operieren – und lebte noch 19 Jahre weiter. In Bremen, wo er seit 1990 jeden Herbst an der Universität unterrichtete, starb der große Universaldenker am 2. Dezember an einem Tumor der Ohrspeicheldrüse.
Der deutsche Beck-Verlag hat in den 90er Jahren eine Neuauflage der meisten Bücher von Illich ediert.
Folgende Titel sind lieferbar:
Entschulung der Gesellschaft / Genus. Zu einer historischen Kritik der Gleichheit / Im Weinberg des Textes / Die Nemesis der Medizin / Selbstbegrenzung.